Die Gewissheit

„Frau L , ihr Kind scheint von allen Organen her gesund, auch das Wachstum ist altersentsprechend. Allerdings habe ich etwas festgestellt…“. Absolute Panik ergriff mich. Innerlich versuchte ich dennoch ruhig zu bleiben. „Was soll schon Schwerwiegendes sein?“, versuchte ich mir noch einzureden. „Ärzte und ihre Theatralik bei Dingen, die dann gar nicht so schlimm sind…“.

„Ich sehe keine rechte Hand bei Ihrem Kind“, riss mich der Arzt aus meinen Gedanken. „Wie keine rechte Hand?“, fragte ich nach. Mir blieb die Luft weg. Hätte ich nicht auf dem Gynäkologenstuhl gelegen, hätte es mir nicht nur sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich kämpfte mit den Tränen, wollte aber professionell bleiben – was für ein unglaublich dämlicher Gedanke in so einer Situation. Aber so bin ich, wenige Menschen möchte ich in meine Seele sehen lassen.

„Er täuscht sich sicher. Eine Zweitmeinung! Ich will sofort eine Zweitmeinung!“, schoss es mir durch den Kopf, obwohl ich in diesem Moment genau wusste, dass es das war, was mich die ganze Zeit nicht losgelassen hatte.

Sichtlich betroffen, versuchte der Arzt mir zu erklären, dass er mir leider dahingehend keine Hoffnung machen kann, dass sich noch irgendetwas entwickelt. „Zwischen dem 24-50ten Tag entwickeln sich die Gliedmaßen. Alles, was bis dahin nicht angelegt wurde, wächst auch nicht mehr.“, erklärte er mir. Die Armknochen seien gleich lang, eventuell gebe es einen Daumen, aber er sehe keine Mittelhand oder Finger, maximal Fingerknospen. Woher das käme, sei zu wenig erforscht. Ich solle mir aber auf keinen Fall Vorwürfe machen, dafür sei die Zellteilung zu komplex und es gebe sehr unterschiedliche Ursachen, für die ich absolut nichts könne.

Mein Gehirn lief auf Hochtouren und viele Fragen umgaben mich: „Warum wir? Was habe ICH falsch gemacht? Stimmt etwas mit MEINER Genetik nicht? Hätte ICH nicht zum Friseur gehen dürfen? Habe ICH zu enge Hosen in der Frühschwangerschaft getragen? Wieso bekommen drogen- oder alkoholabhängige Frauen gesunde Kinder und ICH nicht? Wie wird mein Mann reagieren? Wie meine Familie?“…

„Frau L, ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Ihnen mein Kollege etwas anderes sagen wird, aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen einen Termin für eine Zweitmeinung bei einem Pränataldiagnostiker vereinbaren.“, holte mich Dr. K aus meiner Gedankenwelt. „Ja, das wäre gut“, stammelte ich und rang wieder mit den Tränen. „Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen das mitteilen musste. Bitte bleiben Sie stark. Ich werde Sie bezüglich des Termins umgehend telefonisch kontaktieren.“ Daraufhin drückte mir Dr. K noch seine Karte in die Hand, auf der auch seine Handynummer stand. „Bitte rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie Fragen haben“, sagte er. Den Umgang mit mir als Patientin hätte ich mir in diesem Moment natürlich besser nicht wünschen können. Sicherlich hatte der Arzt mir keine frohe Kunde gebracht, aber was hätte er machen sollen? Es verheimlichen? Dennoch muss ich natürlich an dieser Stelle loswerden, dass es Zeitalter gab, wo es für den Boten nicht gut endete ;-).

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