Familienfest

Einmal im Jahr kommt die Familie meines Mannes in der Nähe einer tollen Universitätsstadt zusammen, um ein gemeinsames Mittagessen mit allen zu veranstalten, die man eben viel zu wenig sieht.

Zu diesem Familienfest erscheinen, so schätze ich, immer um die 30-40 Menschenkinder, die ich stellenweise gar nicht kenne oder eben sehr selten zu Gesicht bekomme.

Aufgrund von Corona war diese Veranstaltung in den letzten Jahren ausgefallen, sodass Samu noch nie dabei gewesen ist und mein Großer das letzte Mal teilnahm, als er gerade etwas älter als ein Jahr war. Inwiefern nun Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins sowie weiter entfernte Verwandte von Samus Einschränkung wussten, weiß ich nicht.

Dank meines Coachings war es mir mittlerweile immer weniger wichtig, was andere Menschen von uns denken. Außerdem bin ich nach nunmehr zwei Jahren soweit in der Akzeptanz mit mir und meinem Kind, dass ich neue, unbekannte Situationen aushalte und auch flüchtige Blicke wahrnehme, aber ignoriere.

Interessanterweise soll es aber in diesem Beitrag weniger um Samu gehen, denn der sorgte für seine positive Art bei allen wieder für gute Laune. Ich möchte euch heute eher davon berichten, wie ich die Position auf der anderen Seite einnehmen durfte…

Als die ersten Gäste eingetrudelt waren, kam irgendwann eine Familie hinzu, deren Tochter eine Einschränkung im geistigen Sinne hatte, die man auch deutlich sehen konnte. Die junge Frau erinnerte mich mit ihrer Krankheit an das Downsyndrom, aber diese Erkrankung sei es wohl nicht, wie mir meine Schwiegermutter mitteilte. Ich begrüßte die Familie freundlich und auch mein vierjähriger Sohn tat dies höflich, wie er es schon bei den anderen Gästen getan hatte. Dabei merkte ich aber, dass er Franzi (Name geändert) interessiert musterte. Ich bereitete mich schon darauf vor, dass Kindermund gleich Wahrheit kundtun wird und ich war leider völlig verängstigt vor dem, was da vielleicht gleich aus meinem Kind herausplatzt.

Vielleicht spürte mein Großer die Verunsicherung und sagte erst einmal nichts. Ich war ehrlich gesagt etwas erleichtert, denn ich war absolut überfordert mit der Situation. Wie erklärt man denn einem Vierjährigen, was bei einem Menschen mit geistiger Einschränkung anders ist? Warum dieser Mensch vielleicht auch anders aussieht, als man das gewohnt ist? Zum ersten Mal fühlte ich, wie es anderen Leuten geht, die uns begegnen, schauen, noch einmal schauen, aber die sich nicht trauen, etwas zu fragen. Obwohl sie dies vielleicht gern tun würden.

Ich wünsche mir einen völlig offenen Umgang mit meiner Situation, aber wünschen sich das andere Familien ebenso? Oder ist es besser, nicht nachzufragen, sich so normal wie möglich zu verhalten und die Situation einfach zu ignorieren?

Mein Sohn fragte natürlich trotzdem irgendwann das, was ihn die ganze Zeit schon zu beschäftigen schien. „Mama, warum hat Franzi denn so kleine Augen?“. Ehrlich gesagt hatte ich damit am wenigsten gerechnet. Ich versuchte ihm das Anderssein genauso zu beantworten, wie ich es immer tue, wenn mich Kinder (Erwachsene ja so gut wie nie) rund um Samus Hand befragen. „Schatz, schau mal, wir sind alle nicht gleich auf die Welt gekommen. Und Franzi wurde eben so geboren.“ Damit war das Thema tatsächlich auch vom Tisch.

Dennoch beschäftigt mich meine Erklärung im Nachhinein. Hätte ich es meinem Kind noch anders erklären sollen? Inwiefern kann er die Erkrankung denn überhaupt schon fassen? Ist es gut, große Reden zu schwingen oder ist es bei Diversität nicht am besten, alles so normal wie möglich hinzunehmen? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, aber es hat sich in diesem Moment richtig für das Alter meines Kindes angefühlt.

Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar für diese Erfahrung. Denn es hat mir einen Perspektivwechsel ermöglicht. Manchmal werden sich Menschen vielleicht uns gegenüber komisch verhalten, weil sie mit der Situation und dem Umgang mit Menschen, die von Einschränkungen betroffen sind, überfordert sind. Doch wir alle begegnen Kindern oder Erwachsenen mit Handicap in unserer Gesellschaft und sei es auch bei einer Familienfeier. Irgendwie fühle ich mich dann auch immer gleich mit den betroffenen Familien auf irgendeine Art und Weise verbunden. Wenn ich sehe, wie andere ihr Schicksal meistern und sie dabei von einer unfassbaren Liebe umgeben zu sein scheinen, gibt mir das viel Kraft für meinen kleinen Fratz. Es schenkt mir einfach die innere Ruhe, wenn ich mir hin und wieder grundlos Sorgen mache…

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