Der Große schießt einen Bock

Es war mal wieder ein ganz normaler Morgen, an dem man mit nichts wirklich Spannendem rechnet. Mein Mann war bereits auf der Arbeit und ich bereitete wie gewohnt die Kids für den Kindergarten vor. Alle waren gesund und so konnte ich nach Wochen endlich einmal wieder den Tag für mich nutzen.

Wir saßen beim Frühstückstisch und alles war wie immer. „Mama, Marmeladenbrot, bitte.“. „Mama, ich habe noch nichts zu trinken!“. „Mama, was ist denn in meiner Brotdose?“. „Mama, ich wollte aber Müsli mitnehmen!“ Mama hier, Mama da – völlig normaler Wahnsinn, der mich mittlerweile in keinster Weise aus der Bahn wirft.

Dass mein Großer die ganze Zeit redete, war auch völlig normal. Die Warum-Phase kann irgendwann nicht nur anstrengend werden, sondern einen auch an den Rand seiner Erklärungsfähigkeiten treiben (oder besser gesagt an den Rand des eigenen Wissens).

So begann er aber plötzlich zu fragen, ob Samus Hand noch wachse. Ich verneinte dies und erklärte ihm, dass wir darüber doch schon mehrfach gesprochen hatten. Samu ist so auf die Welt gekommen und die Hand bleibt so. Interessanterweise fragte er das oft nur dann, wenn wieder andere Kinder gefragt hatten und somit seine Aufmerksamkeit auf das Thema gezogen wurde.

Lian überlegte eine Weile. „Also Samus Hand bleibt genauso, auch wenn er erwachsen ist? Er wird dann immer noch die kleine Hand haben?“. Ich bejahte seine Frage und wusste nicht so recht, auf was mein Kind hinauswollte. Auf einmal fing er wahnsinnig an zu lachen und zeigte mit dem Finger auf seinen Brudi. „Dann werde ich ihn aber sowas von auslachen“, grunzte mein Großer.

Mir blieb augenblicklich das Herz stehen. Dieser Schmerz, den ich schon fast vergessen hatte, schoss in meine Brust. Ich konnte mit der Situation überhaupt nicht umgehen und war entsetzt. „Sämtliches pädagogisches Gequatsche an dieser Stelle für den Arsch“, dachte ich in meiner absoluten Enttäuschung und heulte los. Ich weinte bitterlich, aber es musste raus.

Beide Kinder sahen mich mit großen Augen an und ich bin im Nachhinein froh, dass Samu mit seinen fast zwei Jahren die Situation überhaupt nicht blickte. Er sagte nur immer wieder: „Nicht weinen, Mama!“ und strahlte mich dabei breit grinsend an. Der andere hingegen versteckte sich augenblicklich unterm Tisch und war sich der Situation wohl bewusst. Plötzlich war er lahmfromm, überhaupt nicht vorlaut oder widerspenstig. Er wusste ganz genau, dass er einen riesen großen Fehler begangen hatte. So konnte ich mir meine Worte sparen, die ich in diesem Moment eh nicht hatte. Ich war einfach so wahnsinnig enttäuscht von ihm. Keine Ahnung, woher das plötzlich kam, aber es machte mir schmerzlich bewusst, dass ich wahrscheinlich auch für solche Situationen im Außen noch nicht 100%ig gewappnet war.

Wir fuhren schweigend zum Kindergarten, also mein Großer und ich. Samu brabbelte fröhlich vor sich hin. Ich sah zufällig die Frau des Dorf-Junkies, die unzählige Kinder auf die Welt gebracht hatte. Selbst ständig rauchend unterwegs. Andere Substanzen werden sicherlich auch hin und wieder konsumiert, aber das ist nur eine Vermutung. Und wieder kam dieses leise „WARUM WIR?“ zurück, dass ich eigentlich schon ganz gut losgelassen hatte…

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